Bildergarten

 

 

Nürnberg, den 22.März 2013

 

Lieber Herr von Linprun!

Gegen Ende unseres heutigen Telefongesprächs fiel der Begriff „Biedermeier“, der sich wie mit Widerhaken in meinem Hirn festgekrallt hat und mich seitdem unentwegt beschäftigt. Auch auf die Gefahr hin, Sie zu langweilen oder zu belästigen, habe ich beschlossen, Ihnen einige der Gedanken, die mir seitdem im Kopf herumgeistern, mitzuteilen.

Ich bin in den letzten Jahren, genauer: seit meiner Beschäftigung mit Friedrich Rückert, den  fast alle Literaturgeschichten mangels besseren Wissens geringschätzig in die Kategorie der Epigonen (natürlich Goethes, aber auch der großen Romantiker) und, vor allem, der „Biedermeier-  oder Feld-, Wald- und Wiesendichter“ einordnen, immer mehr zu der Auffassung gekommen, dass dieser Begriff nicht einer Ehrenrettung, sondern einer Befreiung von sehr einseitigen Konnotationen bedarf. Seien Sie unbesorgt, ich will Ihnen kein literarisches Kolleg aufzwingen. Ich möchte nur in aller Bescheidenheit darlegen, weswegen ich selber viel lieber ein „biedermeierlich“ geprägter Mensch sein möchte als ein aufklärerischer, oder klassisch-romantisch-idealistischer. Dabei bin ich mir durchaus bewusst, Ihnen nichts Neues zu sagen, ist doch alles schon oft und immer wieder gesagt und gedacht worden, auch von uns. Nur kann man es als Mensch trotzdem nicht lassen,  das Gedachte und Gesagte immer wieder zu sagen und zu schreiben, nur mit anderen Worten und in einer anderen Schrift. Letztlich, das wissen Sie selbst,  tun Sie mit Ihrer Kunst ja auch nichts anderes als das, was alle Künstler, wenn sie diesen Namen mit Recht tragen, immer schon getan haben: mittels einer anderen „Schrift“, in Ihrem Fall einer neuen Bildsprache, wobei Sie gleichzeitig „der Schreiber und die Schrift“ sind,  erneut das zu sagen bzw. aufzuzeigen, was zum uralten Wissensbestand, zum Weltwissen unserer Spezies gehört. (So hoch will ich freilich meine  Einlassungen nicht hängen, und von Kunst,  das sage ich ganz ohne affektierte Bescheidenheit, kann dabei schon überhaupt keine Rede sein! Ich bin da viel eher, und Sie wissen das selber nur zu gut, ein redundanter Wiederkäuer nicht uralten Weltwissens, sondern uralter Gemeinplätze! Ich mache also keine Sprachkunst, sondern verfasse ganz schlicht und einfach einen gut gemeinten Brief an eine Person, die ich unheimlich schätze und verehre. Und wenn sich diese Person darüber freut, bin ich reich belohnt!)

Woher kommt meine plötzliche Affinität zum „Biedermeier“? Ist sie überhaupt so „plötzlich“? Ist der gängige Begriff „Biedermeier“ oder „Biedermaier“, unter dem man zunächst einen „treuherzigen, genügsamen, geruhsamen, moralisiert-beschränkten Menschen“ verstand, mit dem man  dann eine literarische Epoche von 1814-1845 bezeichnet hat, für meine Überlegungen überhaupt brauchbar? Ich glaube ja, wenn man darunter nicht in erster Linie den unpolitischen und in die stille Häuslichkeit zurückgezogenen Menschen versteht, der ehrfürchtig an der gegebenen sittlich-moralischen wie politischen Ordnung festhält, weil er jede Veränderung politischer oder moralischer Natur verabscheut wie der Teufel das Weihwasser. (Diesen Menschentyp findet man in der Literatur des Biedermeier  durchaus, wenngleich er  fast immer in einen mehr oder weniger deutlichen ironischen Subtext eingebettet ist.) Brauchbar für mich ist der Begriff dann, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass der in  „stiller Häuslichkeit“ zurückgezogen lebende Mensch gerade deswegen sich zurückgezogen hat, weil ihm bewusst geworden ist, dass alles, was lebt, dem Gesetz einer permanenten Veränderung unterworfen ist und politisches Handeln fast immer deshalb mehr Unheil als Heil anrichtet, weil es von dem Versuch gesteuert ist, der Veränderung durch feste Machtstrukturen Einhalt zu gebieten, die unaufhörliche Weiterentwicklung der einzelnen und der Gesellschaft im Interesse des eigenen Machterhalts zu arretieren, was letztlich unmöglich ist, aber eigensinnig – aus unbewussten oder uneingestandenen egoistischen Beweggründen – verfolgt wird. Der „der Welt abhanden gekommene“ Mensch (Rückert), als den ich den biedermeierlichen Menschen sehe,ist ja beileibe nicht weltfremd. Im Gegenteil! Er weiß genau, was läuft und wie alles läuft. Er hat seine Sturm- und Drang-Zeit hinter sich, und was von ihr blieb, sind Traumata, bestenfalls Narben. Er hat seine idealistische Phase, die in die aufklärerische, klassische und schon angekränkelte romantische Periode unterteilt werden kann, hinter sich, und was blieb,  sind Traurigkeit, Wehmut, Resignation, schließlich ein bewusstes Akzeptieren der Wirklichkeit, die als eine sich immer verändernde, also Geburt, Altern und Absterben beinhaltende erkannt ist. So gesehen ist das Biedermeier die dem alternden oder alten Menschen – also uns! -angemessene Zeit, und der „vollkommene“, besser vielleicht: „aufrechte“ Biedermeier“, wie ich ihn verstehe, Herr von Linprun, ist ein Mensch, dem nichts Menschliches mehr fremd ist und der es aufgegeben hat, die Menschen in seinem Sinn ummodellieren, also beherrschen zu wollen, wie er es vielleicht als stürmender, drängender, aufgeklärter, klassischer oder romantischer Idealist noch gewollt hat;  vielmehr wird er ihnen, wenn es ihm möglich ist, bei den niemals einfachen Verwandlungs- oder Veränderungsprozeduren behilflich sein, nie aber in irgend einer Form gewalttätig agieren. Seine Hilfe wird darin bestehen, dem Hilfsbedürftigen, und wer wäre das nicht, zu zeigen, was er selber als ebenfalls Hilfsbedürftiger erlebt und erlitten hat. Das kann dem Hilfsbedürftigen eine große, sehr große Hilfe sein, wenn dieses Zeigen in einer Form sich vollzieht, die tröstet und beglückt. Voraussetzung dazu ist, dass diese Art und Weise des Aufzeigens Erkenntnis, Einblick in den Weltlauf vermittelt. Der Wissende wird weise. Und Sie ahnen schon, lieber Herr von Linprun, in welche Richtung alle meine Äußerungen führen: In der Tat, die Kunst ist ein solcher Weg zur Welterkenntnis, einer unter mehreren zwar, aber zweifellos der hilfreichste, da er alles, aber auch wirklich  alles, was ist und geschieht, berührt und umkreist. Rückert, von Tölpeln als Wald- und Wiesendichter verspottet und verkannt, ging den Weg der Philologie, und seine Sprach- und Sprachenliebe nahm so gewaltige Ausmaße an, dass er nicht nur über vierzig Menschheitssprachen erforschte und durch die dadurch in ihm befreiten Geister ein ungeheures Weltwissen erwarb, sondern auch sein ganzes freiwillig wie notgedrungenermaßen zurückgezogenes Haus- und Gartenleben, denn er war immer auch ein passionierter Gärtner, versifizierte, in Gedichte goss. Die Außenwelt nahm davon schon lange nichts mehr zur Kenntnis. Das machte ihn traurig, aber nicht mutlos. Unverdrossen führte er sein wissenschaftliches wie poetisches Werk weiter, „gestorben dem Weltgetümmel“, ruhend „in einem stillen Gebiet“. Sie kennen sicher Mahlers wunderbare Vertonung dieses Gedichts von Ihm. Biedermeier? Biedermeier! Sie, lieber Herr von Linprun, machen durchaus Vergleichbares. Überblicken Sie Ihr Schaffen in den vergangenen Jahrzehnten, dann werden Sie staunend und hoffentlich auch dankbar und glücklich der ungezählten und nicht mehr zählbaren wunderbar gelungenen Darstellungsformen des Seienden, das in Ihren Darstellungsweisen immer auch als ein Werdendes erfahrbar wird, gewahr. Was für ein reiches Leben, das einen so prachtvoll und üppig blühenden Bildergarten angelegt hat! Und noch immer pflanzen Sie, Monat für Monat, Tag für Tag, häufen immer neue, immer schöne, immer beglückende, da Erkenntnis verschaffende Bilder des Weltenchaos aufeinander, entwerfen Strukturen, denken sich und bilden Lichtskulpturen aus, die gleichermaßen verstören wie berücken. Die Welt weiß gar nicht, was ihr entgeht, auf welche Schätze sie verzichtet, wenn sie davon kaum oder nicht Kenntnis nimmt. Sie jedoch sind weise genug weiterzumachen, sich und die Welt zu verschönern und zu bereichern: „Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten.“(Rückert)

Und ich? Verglichen mit Rückert, mit Ihnen, bin ich ein Biedermeierlein, das gewiss auch das eine oder andere Talentchen hat, mit dem einen oder anderen Vorzügelchen gesegnet ist, letztlich aber doch dauernd aufs Rezipieren angewiesen ist und die ihm geschenkte Kunst zum Leben und Überleben braucht, sei sie ihm von Mozart, von Rückert, von Linprun oder einem anderen Künstler offeriert. Das ist gar nicht so traurig, wie es klingen mag, bin ich doch auf diese Weise ganz und gar nicht von der „Welterkenntnis“, die große Kunst gewährt, ausgeschlossen, bin ich doch somit vor dem giftig-süßen und immer mehr Menschen befallenden „Weltbetäubungsschlummer“(Rückert) bewahrt. Die Hilfestellungen und Krücken nehme ich dafür gerne, mehr als gerne in Kauf ...

Jetzt ist es später geworden, als ich dachte, und das Biedermeierbrieflein hat sich fast zu einer Epistel gemausert. Macht aber nichts. War schön, mit Ihnen zu plaudern, Herr von Linprun. Und ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben, auch wenn ich wahrscheinlich nur Eulen nach Athen getragen habe.

Eine gute Nacht und ein schönes Wochenende

Ihr Georg Apfel

 

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